Der Europäische Gerichtshof hat ein bahnbrechendes Urteil zur Aufzeichnungspflicht von Arbeitszeiten gefällt. Alle Zeiten sind zwingend zu dokumentieren. Die Details des Urteils und die Auswirkungen für die Praxis beschreiben ausführlich Rechtsanwalt Ronald Billepp und unser wissenschaftlicher Mitarbeiter Paul Kolfhaus.
– Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht Ronald Billepp, Paul Kolfhaus wiss. Mitarbeiter – Rechtsanwälte Gaidies Heggemann & Partner, Hamburg –
1. Entscheidung
Generalanwalt Giovanni Pitruzzella sah in seinem viel beachteten Schlussantrag vom 31.01.2019 gegenüber dem EuGH sowohl Gesetzgeber als auch Arbeitgeber in der Verantwortung, die effektive Einhaltung der Grenzen der Arbeitszeiten zu gewährleisten. Er stellte fest, dass die praktische Wirksamkeit des Rechts auf Mindestruhe- und Höchstarbeitszeit erheblich leidet, wenn der Arbeitgeber nicht alle geleisteten Arbeitsstunden dokumentiert.
Dem Verfahren vor dem EuGH lag folgendes zugrunde: Eine Umfrage in Spanien ergab 2016, dass über die Hälfte aller geleisteten Überstunden nicht aufgezeichnet werden. Zwar müssen nach der Rechtsprechung des spanischen obersten Gerichtshofs (Tribunal Supremo) Arbeitgeber die geleisteten Überstunden eigentlich dokumentieren. Das Ministerium für Beschäftigung und Soziale Sicherheit wies aber darauf hin, dass man Überstunden nur verlässlich feststellen könne, wenn die insgesamt geleistete Arbeitszeit bekannt sei – mit einer Dokumentation allein der Überstunden sei es also nicht getan.
Deshalb wollte die spanische Gewerkschaft Federación de Comisiones Obreras (CCOO) die deutsche Bank im Ausgangsverfahren dazu zwingen, alle tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden zu dokumentieren. Dieses Verfahren ist bis zum EuGH vorgedrungen, die Argumentation der Gewerkschaft dabei ist einfach: Das europäische Recht schreibt in Art. 32 Abs. 2 der Grundrechtecharta und in der Arbeitszeitrichtlinie RL 2003/88 die Beachtung von Mindestruhe- und Höchstarbeitszeiten vor. Es sei aber unmöglich, die Einhaltung dieser Vorschriften zu kontrollieren, wenn nicht klar sei, wann und wie lange die Beschäftigten tatsächlich gearbeitet haben. Deshalb sei es unionsrechtlich gefordert, alle geleisteten Arbeitsstunden aufzuzeichnen.
Der Generalanwalt empfahl dem folgend den Richterinnen und Richtern des EuGH, die spanische Handhabung als unionsrechtswidrig zu benennen.
Der Europäische Gerichtshof folgte dem Antrag mit seiner wegweisenden Entscheidung vom 14.05.2019. Zentral für das Urteil ist, ob Arbeitnehmer*innen ihre Rechte auf Mindestruhe- und Höchstarbeitszeiten tatsächlich und umfassend in Anspruch nehmen können. Denn die Arbeitszeitrichtlinie stellt besonders wichtige Regeln des Sozialrechts der Union dar, deren Durchsetzung bedingungslos verfolgt werden müsse. Zudem konkretisiert sie Art. 31 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Deshalb sind den Arbeitgebern alle notwendigen Verpflichtungen aufzuerlegen, ohne die eine Inanspruchnahme des Rechts auf Mindestruhe- und Höchstarbeitszeit praktisch beeinträchtigt wäre. Dies gelte umso mehr, als das strukturelle Machtungleichgewicht zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber es dem Arbeitnehmer eh schon erschwert, seine Rechte einzufordern.
Die Arbeitszeitrichtlinie muss bedingungslos durchgesetzt werden. Darum sind Arbeitgebern alle dazu notwendigen Verpflichtungen aufzuerlegen.
Die Notwendigkeit einer Verpflichtung zur durchgehenden Aufzeichnung geleisteter Arbeit begründet das Gericht unter anderem damit, dass es ohne Aufzeichnung keine Garantie für die Einhaltung der Arbeitszeitgrenzen gibt. Nur wenn alle Arbeitszeiten bekannt sind, sind auch das tatsächliche Maß und die zeitliche Lage der Arbeit feststellbar. Dasselbe gilt für Überstunden – schließlich weiß sonst niemand, wann die Regelarbeitszeit endet und Überstunden beginnen. Auch die staatliche Kontrolle der Arbeitszeit hält es für unzureichend, solange keine vollständige Arbeitszeitaufzeichnung geschehe. Ohne ein System zur Messung der Arbeitszeit ist es einer zuständigen Behörde schließlich kaum möglich, Arbeitszeitverstöße zu entdecken.
Darüber hinaus sieht der Europäische Gerichtshof die Rechtsschutzmöglichkeiten der Arbeitnehmer*innen durch eine unvollständige Aufzeichnung der Arbeitszeit geschmälert. Wenn ein Arbeitnehmer endlich den Mut fände, seinen Arbeitgeber vor Gericht zur Einhaltung der arbeitszeitrechtlichen Bestimmungen zu zwingen, so hätte er ohne objektive Belege zur Dauer seiner Arbeitstage eine zentrale Nachweismöglichkeit weniger. Um seiner Beweislast dennoch gerecht zu werden müsste er also auf die Zeugenaussagen seiner Kolleg*innen zurückgreifen – worauf viele Kolleg*innen aus Angst vor Nachteilen und Vergeltungsmaßnahmen als unsichere Zeugen gelten werden.
Für Arbeitnehmer*innen wäre deshalb insgesamt die Inanspruchnahme ihrer Rechte aus der Arbeitszeitrichtlinie und Grundrechtecharta wesentlich erschwert, wenn der Arbeitgeber darauf verzichtet, die tatsächlich geleistete Arbeitszeit ordentlich zu dokumentieren. Der von der Richtlinie verfolgte Schutz der Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz kann – dies schreibt das Urteil des EuGH nun fest – letztendlich nur wirksam erreicht werden, wenn eine umfassende Aufzeichnung der geleisteten Arbeitsstunden erfolgt.
2. Auswirkungen
Das Urteil hat allseits große Beachtung gefunden. Das Ergebnis der spanischen Umfrage überrascht wohl niemanden und ist ein auch in Deutschland wohlbekanntes Phänomen, sodass von Arbeitnehmerseite vor allem die Anerkennung für die tatsächlichen Probleme bei der Rechtsdurchsetzung zu loben ist. Arbeitgeber wärmen dagegen den Evergreen des Bürokratiemonsters auf und fühlen sich unter Generalverdacht gestellt. Dem Europäischen Gerichtshof zeigten allerdings weder die Beteiligten Deutsche Bank noch die spanische Regierung praktische Hindernisse der Einrichtung eines Systems der Arbeitszeiterfassung auf, wie das Gericht ausdrücklich fest gehalten hat.
An dieser Stelle muss betont werden, dass das Urteil im Einklang mit den Bemühungen der Europäischen Kommission steht, der Arbeitszeitrichtline 2003/88 wirkungsvoll zur Geltung zu verhelfen: Die Kommission versucht, das Streben der Arbeitgeber nach mehr Flexibilität in einer globalisierten Wirtschaft, in der rund um die Uhr intensiver Wettbewerb herrscht, und das Streben der Arbeitnehmer nach einer besseren Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben miteinander in Einklang zu bringen. In ihrer lesenswerten Mitteilung C/2017/2601 zu I A drängt die Kommission darauf, die Gefahren für die Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer zu beachten, die von der Arbeitszeitgestaltung ausgehen könnten. Es darf angenommen werden, dass die Kommission ihre ergänzenden Erwägungen zur Auslegung und zur effektiven Ausgestaltung der Arbeitszeitrichtlinie neben den ergangenen oder noch ergehenden Entscheidungen des Europäischen Gerichtshof platzieren wird.
Auch das Bundesministerium für Arbeit vertritt angesichts des Wandels der Arbeitswelt entsprechende Ansichten zur Erforderlichkeit der Dokumentation der Arbeitszeit, so etwa im Weißbuch Arbeiten 4.0, S. 73.
Tatsächlich sind die meisten Betriebe in Deutschland von einer lückenlosen Aufzeichnung der Arbeitszeit weit entfernt. Ja, das Urteil des EuGH wird Veränderungen erforderlich machen. Allerdings ist ein Teil dieser Änderungen auch heute schon gefordert, was die Durchsetzung von Arbeitnehmerschutzgesetzen in Deutschland demonstriert. Diese gelingt indes nur den konsequent handelnden Betriebs- und Personalräten auf kollektivrechtlicher Ebene.
3. Auswirkungen des EUGH-Urteils für Arbeitnehmer*innen
Der EuGH leitet aus Art. 32 Abs. 2 der Grundrechtecharta ein subjektives Recht jedes Einzelnen ab. Damit können Arbeitnehmer*innen direkt von ihrem Arbeitgeber verlangen, ein System zur Arbeitszeiterfassung zu schaffen. Die Aufzeichnung kann grundsätzlich in jeder denkbaren Form stattfinden, etwa auf Papier, durch Computerprogramme oder mithilfe elektronischer Zutrittsausweise. Notwendig ist aber stets, dass die tatsächlich geleistete Arbeitszeit sicher und objektiv abgelesen werden kann. Ob auf Anweisung des Arbeitgebers von Beschäftigten selbstständig geführte Stundenzettel diesem Erfordernis noch gerecht werden können, ist diskussionswürdig. Bedenken sind eingedenk der vom Gericht angeführten Beweismöglichkeit für Arbeitnehmer*innen und der Überwachungsaufgabe der Kontrollbehörden angebracht. Schon längst ist vom Arbeitgeber eine mindestens stichprobenartige Kontrolle der Richtigkeit der so entstandenen „Belege“ gefordert.
Eine lückenlose Dokumentation der Arbeitszeit wird auch in Betrieben mit Vertrauensarbeitszeit zu gewährleisten sein. Wenn derzeit in der öffentlichen Diskussion arbeitgebernahe Stimmen die auch bei Arbeitnehmer*innen „als besonders flexibel geschätzte und deshalb beliebte“ Vertrauensarbeitszeit zu Grabe getragen sehen, offenbaren sie Ignoranz für die einzig zulässige Form der Vertrauensarbeitszeit: Vertrauensarbeitszeit, die das Arbeitszeitgesetz beachtet. Zur Erinnerung: BAG, Urteil vom 23. September 2015 – 5 AZR 767/13: „Vertrauensarbeitszeit bedeutet nur, dass der Arbeitgeber auf die Festlegung von Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit verzichtet und darauf vertraut, der betreffende Arbeitnehmer werde seine Arbeitspflicht in zeitlicher Hinsicht auch ohne Kontrolle erfüllen“. Die durch das Vertrauen eigentlich eingesparte Dokumentationspflicht lebt nun wieder auf. Um den Kontrollbehörden jederzeit behilflich sein zu können muss der Arbeitgeber wieder besser über die konkreten Arbeits- und Pausenzeiten seiner Mitarbeiter informiert sein; wohlgemerkt unabhängig vom im Betrieb vorhandenen Arbeitszeitmodell. Zwar mag die neue Pflicht zur Aufzeichnung anfangs unnötig erscheinen, doch das BAG, urteilte schon am 15. Mai 2013 – 10 AZR 325/12 „Durch die Vereinbarung von Vertrauensarbeitszeit entfällt nicht die Pflicht des Arbeitnehmers, Arbeitszeit in einem nach Stunden bemessenen Umfang abzuleisten. Die Einhaltung dieser Verpflichtung wird lediglich nicht kontrolliert“. Außerdem sollten Überstunden auch in Vertrauensarbeitszeitmodellen grundsätzlich nicht umsonst sein, wie das BAG in seinem Urteil vom 23. September 2015 – 5 AZR 767/13 – feststellte: „Die Vereinbarung von Vertrauensarbeitszeit steht weder der Führung eines Arbeitszeitkontos entgegen noch schließt sie die Abgeltung eines aus Mehrarbeit des Arbeitnehmers resultierenden Zeitguthabens aus“.
Arbeitnehmer*innen erhalten angesichts des Urteils des EuGH die Möglichkeit, selbst die Einführung von Arbeitszeiterfassungssystemen zu fordern. Auch wenn sie das nicht tun hat der Arbeitgeber selbstständig seiner Rechtspflicht nachzukommen. Seine Dokumentation gehört ihm nicht alleine. Den Beschäftigten muss die sie betreffende Arbeitszeiterfassung zugänglich gemacht werden. Der alltägliche Verstoß gegen Arbeitszeitvorschriften wird darum in Zukunft das bewusste Überlisten der Arbeitszeitaufzeichnung und eine bewusstere Entscheidung für die Selbstausbeutung erfordern.
4. Auswirkungen für Betriebsräte
Die Auswirkungen des Urteils des Europäischen Gerichtshofs auf die Betriebsratsarbeit liegen auf der Hand. Bereits bestehende Betriebsvereinbarungen zur Arbeitszeit und Arbeitszeiterfassung müssen angepasst, und dabei spannende Verhandlungen über die bestmögliche Form der Aufzeichnung geführt werden. Das Spannungsfeld zwischen Datensparsamkeit einerseits und einer möglichst sicheren, objektiven Aufzeichnung andererseits bietet eine Vielzahl von Möglichkeiten der Gestaltung. Der Eingriff in das Persönlichkeitsrecht der Beschäftigten darf dabei nur gerade so tief sein, wie es die wirksame Durchsetzung der Schutzvorschriften erfordert. Die Betriebsparteien haben hier ihren Beurteilungsspielraum zu nutzen, um für jeden einzelnen Betrieb eine passgenaue Lösung zu finden. Mitbestimmungsrechte ergeben sich dabei je nach Gestaltung etwa aus § 87 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 6 und Nr. 7 BetrVG. Hinzu tritt die besondere Verhandlungsmacht der Betriebsräte gemäß § 87 Abs. 1 Nr. 2 und 3 BetrVG. Die Ausgestaltung der Arbeitszeiterfassung und die Dokumentation konnte und kann hervorragend als Verhandlungsposition durchgesetzt werden, wenn der Arbeitgeber an anderer Stelle z.B. Flexibilität erhalten möchte.
Einsicht in die Aufzeichnungen des Arbeitgebers erhalten Betriebsräte wie gewohnt nach § 80 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Nr. 1 BetrVG. Durch das Urteil könnte also die Einhaltung von Arbeitszeitvorschriften einfacher kontrolliert werden. Darüber hinaus würden mitbestimmungswidrig angeordnete Überstunden in Zukunft schneller entdeckt werden.
Unabhängig von europarechtlichen Erwägungen hat der Betriebsrat gemäß § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG die Aufgabe die Einhaltung des Arbeitszeitgesetzes als Schutzgesetz zugunsten der Arbeitnehmer*innen und somit die Einhaltung der vorgeschrieben Mindestruhe- und Höchstarbeitszeiten und der Pausenzeiten zu überwachen. Das kann er – die Parallele zur Fragestellung im Verfahren vor dem EuGH ist augenfällig – nur tun, wenn er Anzahl und Lage der tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden und die tatsächlichen Pausenzeiten kennt. Folglich muss der Arbeitgeber diese Informationen gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 BetrVG bereitstellen.
Es gibt gute Gründe, eine schon längst existente Aufzeichnungspflicht der Arbeitgeber anzunehmen.
Diese Pflicht kann man dem Arbeitgeber in Übereinstimmung mit dem BAG (BAG AP Nr. 61 zu § 80 BetrVG 1972) und Teilen der Literatur (Fitting, BetrVG, § 80 Rn. 59; Krabbe-Rachut, AuR 2004, 70, 73) auch dann auferlegen, wenn er diese Daten wegen vereinbarter Vertrauensarbeitszeit selbst gar nicht erheben möchte. Arbeitgeber mit aktiven Betriebsräten sind demnach auch ohne das Urteil heute schon in der Pflicht, geleistete Arbeitsstunden lückenlos zu dokumentieren. Das gilt auch für Arbeitnehmer*innen mit AT-Verträgen.
Diese Auffassung war bislang umstritten. Einige Stimmen sahen den Arbeitgeber nur in der Pflicht, wenn er die Information auch aufgrund anderer gesetzlicher Bestimmungen beschaffen muss (Richardi/Thüsing, BetrVG, § 80 Rn. 64; GK/Weber, BetrVG, § 80 Rn. 83). Bei der Arbeitszeit wären das folglich, parallel zu der in Spanien geltenden Vorgabe, gemäß § 16 Abs. 2 Satz 1 ArbZG lediglich die Überstunden. So könnten die Arbeitnehmervertretungen ihren Aufgaben, Persönlichkeitsrechte sowie die Gesundheit der Beschäftigten zu schützen und die Arbeitnehmer*innen im Ergebnis vor übermäßiger Selbstausbeutung zu bewahren aber nicht gerecht werden.
Die Auswirkung des Urteils liegt weniger in der Schaffung einer neuen Rechtspflicht, sondern primär darin, den darüber bestehenden Meinungsstreit zu erledigen und zur tatsächlichen Durchführung der auch zuvor schon bestehenden Pflichten zu führen. Nichtsdestotrotz wird der Gesetzgeber das deutsche Arbeitszeitgesetz entsprechend den Erwägungen des EuGH nachbessern müssen.
Es hat eine gewisse Ästhetik, dass sich die Betrachtungen des Europäischen Gerichtshofs über die effektive Wirksamkeit der Arbeitszeitvorschriften weniger auf der rechtlichen als vielmehr auf der ganz praktischen Ebene der betrieblichen Umsetzung auswirken werden.
Hamburg, 21.05.2019
Tags: Arbeitszeit, Arbeitszeiterfassung, Arbeitszeitrichtlinie, Aufzeichnungspflicht, Dokumentationspflicht, Europäischer Gerichtshof, Mehrarbeit, Überstunden